Base

Der erste Tag

Ich muss mich aufklasseln. Tante verspricht neue Redefreiheit. Das ist schön. Das klingt auch nach Basisdemokratie vom Feinsten. Endlich einfach sagen dürfen, was man denkt, will, fühlt. Ich möchte die Tanteflach Zwo. Ich möchte mich hochdienen. Mehr zahlen. Mehr bekommen. Für etwas mehr Kosten unbegrenztes Umsonst. Zum Endlossprechen noch das Endlosnetzbretteln. Ich besuche Tante im Internet. Logge mich ein. Meine Tante, mein Passwort, mein Vertrag. Tante meldet: Der Vertrag ist verlängerbar. Na bitte. Ich schaue mal nach. Tatsächlich. Geschenke gibt’s auch. Zum Beispiel neunzig Euro. Dann bleibt mein Vertrag wie er ist und wird nur verlängert. Ich will anderes. Ich will mehr. Auch dafür hat Tante ein Angebot. Tante Zwo: Endlostelefonie ins Festnetz. Endlostelefonie ins Tantenschnurloshandsprechgerätenetz. Endlos­bretteln im Weltweitnetz. Kostenloser Besuch der Postkiste. Alles für zwanzig. Dazu kommt ein Schnurloshandsprechgerät vom Finnen für einen Euro. Das kostet dann später fünf Euro im Monat (!????!). (Habe ich da schon beim Großgedruckten was falsch verstanden?) Also was jetzt: Ein Euro oder fünf Euro vierundzwanzig Monate lang? Ich will nur Tante Zwo ohne Schnurloshandsprechgerät. Das gibt’s nicht. Tantes Alternative: Wenn nichts für Sie dabei ist, lassen Sie sich zurückrufen. Da trage ich mich ein. RUFT MICH AN! Der Tonfall wie bei der Domina. Das Zeitfenster: Montagzwischenachtundzwölf. Abschicken. Fertig.

Der zweite Tag

Das Schnurloshandsprechgerät klingelt. Es ist Montag, 8,23 Uhr. Zweimal klingelt es. Ich hebe ab. Niemand da. Kann passieren. Die Nummer: Unbekannt. Aber sichtbar. Irgendwer in Potsdam. Tante? Eine halbe Stunde später: Ein neuer Anruf. Ich bin vorbereitet. Habe das Schnurloshandsprechgerät bereits griffbereit und bin auf der Hälfte des zweiten Klingelns am Apparat. Stille. Zehn Minuten später die Textnachricht auf dem Schnurloshandsprechgerät. Leider haben wir Sie nicht erreicht. Sie können uns unter der kostenfreien Nummer soundso zurückrufen. Komisch, denke ich noch – da schellt es wieder: Potsdam. Ich schaffe es diesmal schon zwischen dem ersten und zweiten Klingeln. Niemand dran. Ich rufe zurück. Tante meldet sich: „Leider haben wir Sie nicht erreicht“, sagt eine Dame. Na, das sehe ich aber ganz anders und hole zur Diskussion aus. (Die neue Redefreiheit.) „Ich war – zugegeben – beim ersten Mal erst nach dem zweiten Schellen …“, da merke ich, dass Tante nur eine Bandstimme für mich hat. Es hört niemand zu. Da kann man wirklich frei reden. Die Retortenstimme rät zum Wählen der Soundsonummer. Kostenlos. Na immerhin. Gut, dass man zwischendurch mal einen Happen Zeit hat. Mittagspause. Ich rufe die Nummer soundso an. Man empfängt mich mit Musik. Willkommen bei Tante. Bitte haben Sie einen Moment Geduld. Musik. Sie werden mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Musik. Dann der Slogan: Tante – die neue Redefreiheit. Musik. Ich warte sechs Minuten auf den freien Mitarbeiter. Er hat wohl zu tun. Ich lege auf. Abends versuche ich es wieder. Jetzt habe ich deutlich mehr Zeit, einen Moment Geduld zu haben. Nach 26 Minuten und 23 Sekunden Momentgeduld beschließe ich, dass es ein schlechter Zeitpunkt war.

Der dritte Tag

Mein Schnurloshandsprechgerät klingelt. Es ist Dienstag, 8.36 Uhr. Ich bin wieder nicht schnell genug, obwohl ich am Vorabend das schnelle Ziehen meines Schnurloshandsprechgerätes geübt habe. Ich werde mehr trainieren müssen. Schnelligkeit ist alles. Vor meinem geistigen Auge entsteht eine Schnurloshandsprechegerätehalterung, die mittels eines Klettverschlusses das Telefon direkt ans Ohr tackert. Dazu die automatische Rufannahme programmieren. Fertig. Ich hebe mir die Idee als ultima Ratio auf und verpasse zwei weitere Anrufe bei deutlich gesteigerter Entgegennahmebestzeit. Tante textet: Leider haben wir Sie ... Beim nächsten Schellen schaffe ich es nach circa einer halben Sekunde. Keine Reaktion auf der Gegenseite. Leider haben ...

Die Nummer kenne ich längst auswendig. Nullachthundertzehnzehn­neun­hundertundzwölf. Ich habe eine längere Autofahrt vor mir. Wozu Radio hören oder Musik, wenn ich die Tantenummer wählen kann. Herzlich willkommen. Bitte haben Sie einen Moment Geduld. Sie werden in Kürze mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Musik. Tante, die neue Redefreiheit. Anklopfende Gespräche drücke ich weg. Diesmal muss es klappen! Der Geduldsmoment dauert 48 Minuten und 23 Sekunden. Zuerst denke ich: Da ist gerade kein Mitarbeiter frei. Dann dämmert es mir: Der Mitarbeiter ist möglicherweise krank oder entlassen. Vielleicht hat er Urlaub und es fand sich keine Vertretung. Vielleicht liegt seine Mutter im Sterben. Ich beginne, mir ernsthafte Sorgen zu machen.

Vielleicht ist der Mitarbeiter aber auch einfach nur überlastet. Vielleicht ist es ja derselbe, der mich morgens anruft und immer schon während des Schellens auflegt, dann den Tantentext  (Leider haben ...) an mich versendet und während des Sendens meinen Anruf nicht entgegennehmen kann, weil ja die Leitung besetzt ist. Andere schlimme Gedanken stellen sich ein: Vielleicht bin ich gar nicht Tantes einziger Kunde. Vielleicht gibt es da noch einen, der seinen Vertrag verlängern möchte und kein neues Schnurloshandsprechgerät für einen Euro mit monatlich fünf Euro abzahlen möchte. Vielleicht hat es mein Konkurrent knapp vor mir in die Leitung geschafft. Vielleicht quatscht der gerade mit meinem Tantemitarbeiter. Die gehen gerade die Tarifmodelle durch. Mein Konkurrent: „Wir sollten uns beeilen. Da wollen bestimmt noch andere …“ Der Mitarbeiter: „Kein Problem. Ich bin ganz für Sie da. Wir gehen es nochmal durch.“ Vielleicht ist das alles aber auch nur ein Gewinnspiel. Vielleicht werden irgendwo Wetten abgeschlossen: Wer schafft es aus der Warteschleife zu Tante? Leider haben ...

Der vierte Tag

Ich schreibe an Tante und erkläre meine Misere. Man gewährt mir 2.000 Zeichen. Das reicht kaum für meine gesammelten Seelenqualen. Es reicht allenfalls für ein Streiflicht. Ich berichte von der Abmahnung, die ich wegen Dauertelefonierens während der Dienstzeit von meinem Chef erhalten habe. Mittlerweile bin ich sicher: Tantes Mitarbeiter, wenn es ihn denn gibt und wenn er nicht krank oder entlassen ist oder seine sterbenskranke Mutter pflegt – Tantes Mitarbeiter hat ein Stundenglas und misst die Wartezeiten der Anrufer (also meine und die des anderen). Der Mitarbeiter nimmt nur den aus der Schleife, der durch beharrliches Warten die Dringlichkeit seiner Angelegenheit dokumentiert.

Der fünfte Tag

Ich habe mich in einem Hotel einquartiert, und die Tantenummer über das Festnetz angewählt. Ich bin fest entschlossen, das Appartment nicht eher zu verlassen, bis ich den Ausbruch aus Tantes Schleife geschafft habe. Ich bin auf unbestimmte Zeit beurlaubt und habe meiner Familie gesagt, ich sei auf einer Dienstreise. Ich werde es aus der Schleife schaffen. Ich habe einen Traum: Ich werde mich aufklasseln. Ja, ich kann es.