De mortuis ...

Abschiedszeremonien für höher bis hoch gestellte Personen (es müssen ja nicht immer auch gleich Persönlichkeiten sein) sind gewissermaßen die hohe Schule des Lebens. Ähnlich wie beim Peter Prinzip, demzufolge bekanntlich jeder nach dem Grad seiner Unfähigkeit befördert wird, sollten wir hier und jetzt den 'Servus-Faktor' einführen, der sich quasi selbstredend erklärt: Da geht einer den kaum jemand mochte -- also wird gefeiert was das Zeug hält. Im Übrigen bietet ein solcher Anlass dem Delinquenten reichlich Gelegenheit, gewissermaßen bei lebendigem Leib einen Vorgeschmack auf sein Hingeschiedensein und die in dessen Folge stattfindenden Trauerfeierlichkeiten zu er'leben'. Stellt schon der Abschied aus einem weltlichen Amt einen Hochgenuss dar, so kann hier und jetzt bezeugt werden, dass der Abschied eines Kulturschaffenden noch einmal eine wesentliche Steigerung bringt, denn es geht bei der Auflistung der Verdienste schließlich um nichts wirklich Messbares, was den Festrednern reichlich Gelegenheit zur Übertreibung bietet.

Der Aufmarsch

Natürlich sind sie alle gekommen zu diesem Monster's Ball -- kleine Geschenke im Marschgepäck. Was schenkt man einem Musikschulleiter? Wie wär's mit Bach? Münchinger und Richter sind fast überall im Angebot, aber einen Tag vor den Feierlichkeiten hoffnungslos ausverkauft. Schließlich werden gegen 300 Gäste erwartet. Die Begrüßungsrede des Landrates wird an die Presse verteilt. Es gilt das gesprochene Wort. Der Redenschreiber hat sich mächtig ins Zeug gelegt und musikalische Anekdoten gesammelt. Das verbreitet eine Aura von wohlgenährtem Bildungsbürgertum. In der ersten Reihe sitzt der Delinquent nebst Frau und Restfamilie. Hinter jedem großen Mann steht eine starke Frau. Und ob. Für die Redner liegt Kreide bereit.

Die Feier

Den Anfang macht eine Gruppe von mittelgroßen Mädchen: In Turnschuhe und Jogginganzüge gehüllt verbreiten sie singend gute Laune. Schubidua, Schubiduaaah. Dazu waschen sie sich -- wie einst Norbert Schramm auf dem Eis -- synchron die Hände. Schubiduah, Schubiduaaah. Am Klavier eine sich ins Zeug legende und gleichzeitig aus dem Zeug wachsende wild gestikulierende Trainerin. So schön, so unbeschwingt kann Musikschule sein. "Sie haben hoffentlich ein bisschen Zeit mitgebracht", orakelt der sich ans kranzgeschmückte Rednerpult schwingende Landrat. (Doch eine Beerdigung?) Dann die Rede. Als du, lieber B., vor dreißig Jahren in unsere Stadt gekommen bist. Die Lebensgeschichte im Zeitraffer. Immerhin acht Minuten. Danach der Blumenstrauß für die först Läidi. Ein Küsschen. Eine Umarmung. Aufmarsch des Lehrerorchesters. Bach wird gespielt. Und der Scheidende möge bitte, wenn auch ohne Probe, dirigieren. Die Augen der Spieler sind stur auf die Noten gerichtet. Damit man nicht raus kommt. Der Dirigent übt sich in der großen Geste. Manchmal einen Hauch vorbei an der Musik. Am Ende: Kaum abreißende Applauswogen. La Ola in Bach. Die Först Läidi erhebt sich, als hätte sie selbst den Taktstock geschwungen. Hinter jedem großen Mann steht eine starke Frau.

Der Festredner konzentriert sich ganz auf die drei großen M. Musik macht Menschen. Ja muss man dem Volk das noch sagen? Weiß das denn nicht längst ein jeder? Offensichtlich nicht, denn der Festredner braucht vierzig Minuten für den Beweis seiner These und vergisst die Anekdoten nicht, die das langsam wegdämmernde Festpublikum zwischenzeitlich in den Zustand des bewussten Zuhörens zurückhypnotisieren sollen. Der Festredner war ein Studienkollege. Ihm steht somit ein ausgedehnterer Zeitrahmen zur Verfügung. Als wir, lieber B. vor, vierzig Jahren ... Sein Manuskript hat er aus einer dieser schwarzledertuenden Lufthansa-Umhängetaschen im Stil der 70er gezogen, die zum unverzichtbaren Rüstzeug eines Musikpädagogen im Stil der 60er gehören. Jung geblieben ist er aber. Das merken alle beim Anmarsch auf das Rednerpult. Der Mann nimmt die Stufen im Eilmarsch und hat im Übrigen gut aufgepasst in seinem Rhetorik-Kurs. Während er sich noch durch die gemeinsame Geschichte hangelt, wird ihm gegenüber -- an der Stirnseite des Saales -- Suppe in die bereitstehenden Warmhaltebehältnisse gefüllt. So funktioniert Folter. Am Ende tritt der Musiktarzan von der Bühne ab und überreicht Bruckner. Mit Bruckner in die Rente.

Da wird es aber nun Zeit für ein wenig Musik. Ehemalige sollen mittels Flöte und Cello zu Ton kommen. Alles deine Schüler, lieber B. War B. denn nicht Geiger? Es tritt auf: Ein lieber Kollege. 20 Minuten braucht er. Als du, lieber B., vor 34 Jahren in unsere Stadt gekommen bist. Das statistische Zahlenwerk beginnt, sich in Widersprüche zu verstricken. Macht nichts. Die först Läidi kümmert sich derweil ein wenig um die Enkel, die mit Holzspielzeug und Pergamentpapier für eine aufreizende Akustik sorgen. Dann der Chor der Kollegen. Nebst Choreographie. Einmalig. Und der Nachfolger? Der begutachtet nebst Kanzlergattin das neckische Treiben und trägt ein professionell nichtssagendes Lächeln zu Markte, bei dessen Anblick man das Gefühl nicht los wird, dass er es morgens nach dem Aufstehen aus dem Eisschrank holt, um es vor dem Einschlafen wieder wegzufrieren. So lacht einer, der die 34 Jahre noch vor sich hat. Dann die Abschiedssymphonie, interpretiert von einem Schüler-Lehrer-Orchester, bei dessen intonativen Qualitäten der Abschied zum Genuss wird. Gut, dass jemand das Wort Detonation bereitgestellt hat. Haydn detoniert vor den Ohren des langsam ins Reich der Träume sinkenden Auditoriums. Aber die först Läidi hat ihren Spaß mit den Enkeln, deren einer "ichmussmal" sagt und prompt zur frisch gereinigten Schülertoilette abgeführt wird, wobei er sich in die 180-Euro-Frisur der starken Frau verkrallt.

Der Förderverein hat sich Mühe gegeben. Zu jedem Buchstaben von Bs Vor- und Nachnamen haben die eifrigen Damen etwas gefunden und präsentieren das Ergebnis -- Pädagogik soll ja Freude machen -- auf einer hübsch dekorierten Tafel. Die Suppe wird wieder abgeholt und noch angeheizt. Der nächste Redner versucht, die Wahrheit mit Witz zu dekorieren. Als du, lieber B. vor 32 Jahren in unsere ... und man weiß, dass nur Fehler machen kann, wer auch arbeitet, und du hast viel gearbeitet. Wenn die Schatten der Kultur niedrig stehen, werfen auch Zwerge einen großen Schatten. Die Kanzlergattin zuckt und klatscht aufopfernd. Und so haben wir mit dir, lieber B., Erfahrungen machen können, wie man sie sonst nirgends hätte machen können. Applaus brandet auf. Die Suppe wird zurückgebracht. Das Orchester marschiert auf und versucht es mit dem Trinklied aus La Traviata. Das Publikum hat die 30 oder 32 oder 34 Jahre noch einmal erlebt und sich an der Amnesie der Redner beglückt.

Jetzt aber darf endlich ausgelassen gefeiert werden, und die wenigen, die es nach dem Schlussapplaus nicht gleich geschafft haben, unerkannt zu entkommen, erheben gerade ihr Glas, als der erste Stegreifredner das Pult stürmt und Schwer-Gereimtes nach Manier des ländlichen Karnevals zu Gehör bringt. Da wollen aber dann, bitte schön, auch noch andere zu Wort kommen. Die Suppe wird wieder abgetragen -- der Sekt in die Kühler verstaut. Als du, lieber B., vor 33 Jahren in unsere Stadt gekommen bist.