Jubiläum

Alle sind sie gekommen - Wichtige und Unwichtige. Vorneweg: der Bischof. Der liest die Messe. Die Landjugend gibt sich weltoffen mit Banjo und Schlagzeug. Ganz in Englisch gehalten. Lokalkolorit nennt man das. Das Stimmgerät für Banjo und Westerngitarren ist leider außer Funktion. Jetzt klingt halt alles ein bisschen schräg. Man hat sich doch so daran gewöhnt, die Stimmung an einem Zeiger abzulesen. Was hat Musik schon mit den Ohren zu tun. Immerhin: der Bischof predigt in Deutsch. Statt der Zunge hängt dem Sänger ein Kreuzchen am Hals. Während der Wandlung: ein Handy. Kurz darauf ein ersticktes "Ich kann jetzt nicht - wirklich nicht" - dazu ein Satz hochroter Ohren. Während der Predigt schon: das Konzert der Armbanduhren. Am Puls der Zeit. Am Schluss ein Witzchen von Eminenz: megagut hat es ihm gefallen. Die Landjugend tobt. Segen und raus.

Das Wetter strahlt. Unter freiem Himmel vertritt man sich die bischöflich gesegneten Beine und den Rest des Ganzkörpers. Die Feierstunde folgt. Almauftrieb im großen Vortragssaal. Eminenz muss mal wohin. So viel Zeit muss sein.

Der Saal ist eng bestuhlt und blumengeschmückt. Ein Klavier droht neben dem Rednerpult. Daneben die künftige Täterin in Sachen musikalischer Umrahmung der Feierstunde: 150 Kilogramm Lebendgewicht. Unterarme, dass einem das Klavier leid tut.

Und los geht´s. In den Ring tritt der Chef. Die Begrüßung der Festgäste vom Bischof abwärts dauert ein knappes halbes Stündchen. Danach erhebt sich das Klaviermonster von seinem Platz. Ein Fleischberg auf filigranen Stöckelschuhen. Absatzhöhe schwindelerregend. Das Volk zittert mit. Wird sie es bis zum Instrument schaffen ohne zu straucheln? Sie schafft es. Die Augen zur Decke gerichtet holt sie zum ersten Akkord aus. Klavier und Publikum erschauern gleichermaßen angesichts der Klanggewalt. Eine von den Unwichtigen in der zwölften Reihe stöhnt ein "Schööön", derweil die Pianistin weiter auf ihr Instrument einhackt. Liszt. Mein Gott, wie virtuos. Der Bischof sieht müde aus und schafft es erwartungsgemäß nicht bis zur Coda. Das geweihte Haupt sinkt - Kinn voran - auf die Brust. Erst der Applaus weckt ihn wieder auf. Wie das donnert. Die Pianistin balanciert zurück zum Platz - wird namentlich erwähnt als Garant für einen gelungenen Rahmen.

Der erste Redner bricht zum Pult durch. Begrüßung vom Bischof abwärts bis zum normalen Volk. Alle sind herzlich willkommen. Ein paar Gedanken zu diesem Jubiläum hat sich der Redner gemacht. Kurz will er sich fassen. Dazu braucht er gute 17 Minuten. Vor den Ohren des Volkes entstehen nie gehörte Satzkonstruktionen - lianenhaft: "Von den durch Sie aus Anlass des Festes mit großer Freude über die Zeit des Feierns geäußerten Wünschen nach einer von Gratulationen bezüglich dieses Festes unter vielen wie ein Lauffeuer verbreiteten Nachricht, darf auch ich mich unter diesen Umständen...." Danach der Bürgermeister: Begrüßung vom Bischof abwärts: "Die Säulen menschlichen Strebens nach der durch Orientierungslosigkeit verstellten vollkommenen Menschlichkeit...." Eine Palme hat er auch dabei. Für die Vorhalle. Heimlichkeit möge einziehen und somit eine Atmosphäre größtmöglicher Entspanntheit schaffen..

Der nächste Redner hat sich eben erhoben, als sich - vom Protokollchef angewiesen - der musikalische Rahmen aus dem Stuhl erhebt und das Klavier ansteuert. Augen himmelwärts wird das langsam in der Stimmung nachlassende "Instrument" mit Liszt eingeäschert. Große Schweißperlen tropfen schwer von den haxenartigen Unterarmen. Presto possibile. Oktavgänge rechts und links bringen das Festpublikum in Endzeitstimmung. Noch drei Sekunden nach dem letzten Akkord ist es totenstill - erst dann erholt sich die tonal geschundene Festgemeinde langsam und beginnt mit frenetischem Applaus. Die Pianistin kehrt ungerührt an ihren Platz zurück. Russische Schule.

Der nächste Redner: Begrüßung vom Bischof abwärts bis zu den Dorfbewohnern, denen die Verzweiflung mittlerweile ins Gesicht geschrieben steht. Nur ein paar kurze Gedanken zu diesem denkwürdigen Jubiläum. Die Fünfzig als Zahl und überhaupt. "Und gestatten Sie mir einen kurzen Exkurs." 24 Minuten später wird der Bischof jäh aus seinem tiefen Schlaf gerissen.

Je schlimmer die Reden, desto nachhaltiger der Applaus. Das Publikum gibt seiner Erleichterung über das gerade beendete rhetorische Desaster in salvenartigen Klatschwellen freien Auslauf. Der Redner zieht seinerseits eine Zugabe in Erwägung, wird jedoch vom Protokollchef mit sanften Druck und dem Verweis auf die ohnehin schon eingetretene Verspätung zu seinem Stuhl geführt - nicht ohne wiederholte 360 Grad Verbeugungsschwenks in Richtung des langsam erschlaffenden Publikums. Der Landrat begrüßt vom Bischof an abwärts und erklärt nur kurz ein paar Details zur überregionalen Bedeutung der Institution. Zehn Punkte hat er sich notiert. Es muss ja schnell gehen. Der Festredner mit seinem Vortrag soll schließlich gebührend zu Wort kommen - nicht allerdings, bevor es noch einmal Liszt gegeben hat. Die Paraphrase führt in 18 Minuten die Leistungsgrenzen einer Konzertpianistin vor. Das Klavier ist ohnehin nicht mehr zu retten. Die Pianistin zeigt deutliche Anzeichen physischer Erschöpfung und kann sich, was das angeht, längst mit der Festgemeinde zusammentun.

Der Festredner begrüßt das Auditorium und meint, die Reihenfolge ändern zu müssen. Vom gemeinen Volk bis zum Bischof aufwärts. Zwischen Bürgermeister und Landrat eingekeilt, lässt seine Eminenz endlich seiner Begeisterung über die Feierstunde freien Lauf. Das weißbehaarte Haupt senkt sich mit hydraulischer Langsamkeit auf die Landratsschulter.

Der Protokollchef kommt mit Glas und Flasche. Die Luft ist trocken. Der Gaumen des Festredners auch. Der Herr Professor sieht ein, dass man schon lange hier ist. Er wird sich kurz zu fassen versuchen. Trotzdem erscheint es ihm unumgänglich, das ihm angetragene Thema historisch auszuleuchten, weshalb er sich zu einem Exkurs in fernere historische Regionen genötigt sieht. Er fasst zunächst einmal die Eckpunkte zusammen - alle sollen einen Überblick haben. Die Gliederung schafft er in 17 Minuten.

Entschuldigende Blicke vortäuschend verlässt der eine oder andere den Festsaal. Notdurft. Der Professor streut Anekdoten ein und würzt den Vortrag mit reichlich fremdsprachlichen Zitaten - vorwiegend in griechischer Mundart - die er, der langsam davoneilenden Zeit wegen, nicht ins Hochdeutsche übersetzen möchte. Die hinteren Ränge haben längst spannendere Gesprächsthemen erschlossen und fangen an, die Lust am Leben wiederzuempfinden, derweil der Professor von wichtigen Dingen spricht: Das Hereinlauschen in das aufgewühlte Selbst. Dazu lädt er alle ein. Nach 68 Minuten passiert er - sichtlich von der eigenen Rede beeindruckt - die Ziellinie und wird mit 15 Vorhängen geehrt. Alles, was man immer schon wissen wollte - jetzt weiß man´s.

Das von Dankbarkeit durchspülte Volk erhebt sich - aber nichts da. Rahmen ist Rahmen. Von Inspiration ergriffen und zum finalen Angriff ausholend schwebt die Pianistin ein letztes Mal dem Klavier entgegen. Wie wär's mit Liszt? Der Bischof muss zurück. Termine. Unsanft geweckt, wird er durch das andächtig sich zur Musik unterhaltende Publikum zum Ausgang geführt. Liszt, die Pianistin und das Instrument im Todeskampf. Durch die einen Spalt geöffnete Bischofstür riecht es nach Essen. Nach dem letzten Akkord eine Sonnenblume für den stark schwitzenden musikalischen Rahmen. Die Feierstunde sei ein wenig lang geworden, räumt der Protokollchef ein, während die Festgemeinde panikartig die Ausgangstüren stürmt. Die langsam in sich zusammensinkende Sonnenblume wird die nächsten fünf Minuten nicht mehr überstehen...