Allesoperoderwas

Es war mir lange Zeit nicht möglich: in jedweder Form mit dem Begriff Oper zu hantieren. Unter den amusikalischen Begriffen des Musiklebens gehört das Wort Oper an die erste Stelle. Wohlgemerkt: Es geht nicht um den Notentext, nicht um das Eigentliche, das es wohl einmal gegeben haben muss... Auch die Bibel oder Das Kapital haben einmal etwas Eigentliches gehabt – davon muss man ausgehen, denn Komponisten können einfach nicht einen so großen Teil ihres Lebens mit Uneigentlichem verbracht haben. Das mag naiv klingen, aber als einer, der bisweilen selbst ein paar Töne hintereinander (oder überuntereinander) komponiert, erscheint mir eine solche Annahme als völlig unglaubwürdig. Andererseits müsste dann auch ein A.L.W. (Andrew's Musical Shop)... aber denken wir das nicht zu Ende...

Das Uneigentliche an der Oper also scheinen – und das nicht erst in unseren Tagen – ihre Hersteller (ich meine nicht die Komponisten) zu sein. Sprechen wir also von ihren Wiederherstellern. Die Oper ist längst zu einer Art Kampfsport geworden, der wahrscheinlich eher in die Gattung Leistungssport gehört, als es der Eistanz nicht tut. Da gibt es auf der einen Seite die Stars: Regisseure und Fahrer. Fahrer sind die, die mit hochgezüchteten oder tiefgelegten Formel-I-Stimmen aus der ersten Reihe starten. Wer je versucht hat, bei so mancher Arie, deren Notentext nicht greifbar ist, die Melodie aufgrund des Gehörten nachzuschreiben, wird sehr bald feststellen, dass dies nicht möglich ist. Arien sind nichts anderes, als eine Art von Skelett, ein Haufen zusammengewürfelter Knochenteile, die die Sänger nach deren Exhumierung zur Identifizierung freigeben. Arien haben demnach bei der uneigentlichen Oper mit Musik nichts zu tun – sie sind gewissermaßen zu Hanteln des stimmlichen Bodybuildings verkommen – denn: man muss ja irgendetwas singen. Und wenn es da schon das eine oder andere Werk gibt, das man nicht selber komponieren muss und das sich im Laufe der Geschichte als publikumswirksam erwiesen hat – warum nicht darauf zurückgreifen: risikofrei. Es wird nicht mehr das Werk abgefeiert, geschweige denn sein Macher (der Ursprüngliche – der Komponist also), sondern seine Wiedermacher und diejenigen, die es sich leisten können, die Wiedermachung, die nur selten – eigentlich nie – eine Wiedergutmachung ist, zu sehen. Vielsagend dabei ist nur ganz am Rande, dass man eine Oper nicht hört – man sieht sie. "Ich habe gestern Aida gesehen!" Kein Kommentar. Oper also ist ein zum Sehstück verkommenes Musikdrama.

Und dramatisch ist's allemal, wenn tiefausgeschnittene Soprane auf der Bühne sterben müssen oder den Tod eines guten Bekannten zu betrauern haben, indem sie die Hände vor dem Busen genau so ringen, dass den Logeninhabern nicht der Blick auf Brustwarzen verwehrt wird, die Teil des mit dem Billet erworbenen Anspruchs sind. Schauspieler sind sie wahrhaftig nicht, aber auch ein Eberhard Gienger hat ja am Reck selten Shakespeare zitiert und dazu gleichzeitig gesungen – er hat sich auf's Turnen konzentriert.

Ich erinnere mich an eine Inszenierung von Madame Butterfly, bei der eine schwerbrüstige und auch ansonsten nicht zu den Ultralaits gehörende Sängerin, während sie gleichzeitig ein Kind zu trösten hatte, ihre Arie verrichtete und dabei lautstark knapp am Trommelfell des Kleinen vorbeistrahlte, der aus Trostgründen seinen Kopf an den ihren zu legen hatte. Wäre es kein Kind sondern ein Hund gewesen – der Tierschutzverein hätte eine Zweitaufführung zu verhindern gewusst – so viel steht fest. Auch die intimsten Äußerungen müssen bei der Oper laut vonstatten gehen – hat doch der Sänger immer auch gegen das Orchester zu kämpfen. Inbrunst wird durch hartnäckig sich behauptende Gesten der Hände angedeutet, die zu diesem Zweck vor der Brust gewaschen oder an den Kopf genommen werden ...

Und da natürlich auch nicht alles Musikalische an und in der Oper brauchbar ist, empfiehlt es sich – besonders bei den optisch reizlosen CD-Einspielungen (nicht jeder besitzt die Bildplatte) – gerade das Unschöne (Rezitative z.B.) kurzerhand wegzulassen und sich auf die Bravour-Arien oder bekannten Chöre zu konzentrieren. Ein Trend, der bei den klassischen Werken der Literatur eigenartigerweise noch nicht zu verzeichnen ist. Die schönsten Sätze aus Faust I vielleicht, oder Romeo und Julia in der handlich reduzierten Version: Wir lieben uns, aber wir dürfen nicht. Vielleicht würde so mancher wieder mehr lesen: es ginge ja auch bedeutend schneller!

Oper also nicht als Kultur, sondern – auch hier praktisch eingekürzt – als Kult für Insider, die ihre Helden und ihr eigenes Da-sein abfeiern müssen. Kult für die, die Ahnung haben. Und mit dem Applaus ist es auch nicht so schwierig wie in der richtigen Musik. Man klatscht einfach, wenn es gefällt – da braucht man nicht bis zum Ende eines Stückes warten – ganz im Gegenteil: Das wäre unschön. Beklatscht wird, was gefällt und: wann es gefällt. Und bebuht natürlich auch. Und was das Schuut-Aut beim Western, das sind der Oper die hohen Töne der Sänger. Auch da, wo keine stehen, macht man welche hin. Hohe Töne sind der Beweis der Leistung. Wehe, wenn sie nicht kommen. Demnächst, so meint meine Frau, wird es CD's geben mit den schönsten hohen Tönen aus verschiedenen Opern. Platz- und zeitsparend. Und natürlich wird es, gemäß einem um sich greifenden sprachlichen Infekt, auch für die Oper etwas geben, das aller Zeiten ist. Das schönste hohe c aller Zeiten vielleicht. Die berühmtesten Sänger aller Zeiten gibt es ja schon.

So viel zu den singenden Helden – den musikalischen Gewichthebern. Aber weil nur mit denen das Geld noch nicht verbraucht wäre, müssen Regisseure her – solche, die aktualisierend tätig werden. Die Musik muss ja – bis auf die eingesprungenen hohen c's – so bleiben, wie sie ist. Aber all das andere gehört auf den neuesten Stand gebracht. Es würde sonst ja keiner mehr verstehen. Da ja ohnehin die wenigsten die Musik verstehen, – die konzentriert sich auf das Schöön-Sein – muss der intellektuelle Reiz durch die Dekorationen und Aktualitäten eingebracht werden. Da wird Aida zum singelnden Vamp, der auch noch singen kann oder Macbeth zum Genforscher, der in einem Labor der Verleihung des Nobelpreises bedrohlich singend entgegenforscht ... Könige und Königinnen sind nicht in. In unserer Zeit. Nun denn. Und die Oper darf sich – wie natürlich auch das Theater – Sachen erlauben, die im wirklichen Leben verpönt sind, weil anrüchig. Man geht nicht in den Sex-Shop – oder allenfalls nur heimlich: Man geht in die Oper oder in's Theater, um Leute auf der Bühne onanieren oder masturbieren zu sehen. Nacktes Fleisch nicht auf St. Pauli, sondern in der Kult-Veranstaltung. Schließlich sollen alle Sinne befriedigt werden. Gespeist wird in der Pause. Das Menü ist im Programmheft abgedruckt. Und die solches auf die Bühne bringen, brauchen Geld – viel Geld. Denn nur, wer selbst viel Geld hat, weiß, wie man denen beikommen kann, die es auch haben. Die wollen keine Musik, brauchen sie schon gar nicht – die gehen in die Oper wie die Römer in den Circus Maximus und lassen sich danach mit dem Federkiel bearbeiten, um, frisch ausgekotzt, andere Reize zu baggern.

Die Interna – man könnte auch sagen: das Zwischenmenschliche – könnten alleine Bücher füllen. Es kommt in der Anwendung des Wortes Zwischenmenschlich auf die Welt der Oper mehr auf das an, was dazwischen ist, als auf das Menschliche. Gingen im Auftrag von Tonja Harding Männer mit Eisenstangen auf die Knie der Schönen Nancy Karrigan los (der Plural erfüllt hier rein dramaturgische Funktion: es war natürlich nur ein Mann mit einer Eisenstange), so ist bei operninternen Duellen das Anwenden von Rasierklingen in Richtung konkurrierender Kehlköpfe vielleicht demnächst ein probates Mittel. Zumindest aber verschaffen sich bisweilen die Zweitbesetzungen durch Verabreichung verdauungsfördernder Tees oder anderer medizinischer Nettigkeiten im wahrsten Sinne des Wortes Gehör für die eine oder andere Abendvorstellung. Dies natürlich an kleineren Häusern – einer Jesse Norman tut man dergleichen nicht an. An den kleineren Häusern allerdings, so sagt man, haben die angehenden Stars ihre eigenen Vorkoster und auch auf dem Gebiet der psychologischen Kriegsführung werden immer neue Fortschritte gemeldet. Die Besetzungscouch ist zunehmend der Aids-Hysterie gewichen. Hier waren ohnehin die weiblichen Athleten in einem unrechtmäßigen Vorteil, weil es viel zu wenig Frauen in entscheidenden Positionen gibt. Man sehe diese Bemerkung völlig unzweideutig.

Sprachen wir am Anfang von den Einen – Wiedermachern und Leistungssportlern, so seien, ihrer Rangfolge gemäß am Rande noch die armen Schweine aus dem Opernchor und das Orchester erwähnt: Sie sind die Wasserträger, die also, die bei einer winterolympischen Abfahrt die Plätze 4-80 belegen. Die Damen und Herren aus dem Opernchor glänzen ihrerseits bei Wochenendoratorien auf dem Lande als meist leiernde Solisten. Schnell wird da aus dem Bassist vom Rundfunkchor der Wochenendjesus von Wanne-Eickel – Passionszeit vorausgesetzt. Sie aber müssen auch an den Start, weil es doch wahrhaftig langweilig wäre, nur zwei oder drei Läufer auf die Strecke zu schicken. Dafür würde kein Sender genügend Werbeeinblendungen bekommen, ohne die es ja nicht geht. Und außerdem wäre es auch langweilig: jede Woche im Lotto zu gewinnen. Man braucht zwischen all den Highlights auch mal etwas Mittelmaß, um sich auf den Star freuen zu können.

Ich lernte die Oper in Form von Dido und Äneas von Purcell kennen. Ich habe das Stück schon hunderte Male gehört und halte es für uneitel. Ich weiß auch wenig über die Handlung, weil ich immer wieder den Fehler mache, der Musik zu folgen. Zusammen mit einem Regisseur bereite ich derzeit eine Inszenierung vor, die völlig unaktuell und langweilig die Musik in den Vordergrund stellen wird. Und, was das Schlimmste ist: Sie wird ohne den Hauptdarsteller stattfinden. Falsch: der wird natürlich singen, aber nicht zu sehen sein, weil er meinem Bild eines Äneas nicht entspricht. Revolutionär und – wie alles Revolutionäre – aus der Not geboren. Mein Regisseur staunte nicht schlecht. Immerhin hat das den Vorteil, dass Äneas sich nicht erkälten wird, weil er nicht nackend auf die Bühne muss usw. Vielleicht aber wird das andersherum sparfreudige Anti-Kulturelle auf die Idee bringen, in Zukunft bei großen Werken aus Kostengründen immer mindesten eine Hauptrolle (Hautrolle) zu streichen oder von einem No-Name-Sänger aus dem Off singen zu lassen. Sollte sich dieser Trend einbürgern, werden demnächst die Opern unter Ausschluss von Aktiven auf leeren Bühnen stattfinden. Das Publikum kann sich dann ganz auf's Essen konzentrieren und bekommt genau das, was es immer hatte: die Einbildung. Aber es wird alles viel billiger dadurch. Allesoperoderwas ...