Versuch über die niederrheinische Zentrifugalgrammatik, einige Lautmigrationen und andere Merkwürdigkeiten

Der gemeine Niederrheiner unserer Tage erlebt – zum Teil mit Bedauern – den Rückgang der Mundart, die andererseits auf den Intensivstationen einiger Heimat- und eigens zu diesem Zweck gegründeter Sprachforschungsvereine gepflegt wird. Diese Studie erhofft sich, breitere Bevölkerungskreise über die schützenswerten Besonderheiten des Niederrheinischen aufmerksam zu machen und so dem fortschreitenden Verlust des dialektalen Bewußtseins ein Stück weit entgegenzuwirken.

Der niederrheinische Ureinwohner ist, bewegt er sich aus seiner Heimatregion an irgendeinen Platz der Welt, an den als äußerst typisch zu bezeichnenden Vokaldehnungen unschwer zu erkennen. Er sagt nicht 'Parkplätze' – er (und natürlich auch sie) sagt etwas, das am Ende ungefähr so klingt: 'Paaaikpplätze', wobei allerdings das Schluß-ä häufig explosionsartig und durch ein imaginäres Doppel-P gwissermaßen akzeleriert und darüber hinaus in den hinteren Rachenbereich verlegt wird. Die Werkzeuge der für viele Fremdsprachen konstruierten und in Lexika zu findenden Lautschrift greifen bei der onomatopoetischen Darstellung derartiger Klangkonstruktionen gänzlich ins Leere. Es heißt auch nicht 'sofort' – man sagt – und auch hier versagt die Lautschrift (s.o.) – 'soffoatt'.

Gravierender sind bei Leuten der rechtslinksunten-Region (mittlerweile auch standesbewußt Nieder-Rhein genannt) signifikante Sprachmutationen auf der grammatischen Ebene. Diese sprachlichen Mutationen werden auch von denen angewandt, die ansonsten niemals Platt sprechen. Die grammatischen Beugungen treten bei ihnen gewissermaßen als indirekte Sprachdeformation auf. Der gemeine Niederrheiner geht nicht irgendwohin – er/sie gehen nach oder gegen etwas. Ich gehe nach Aldi. Ich gehe nach dem Doktor. Sehr schön auch die Wendung: Ich muß auf Klo. Oder: Ich muß gegen den Zahnarzt - statt: ich muß zum Zahnarzt. Man beachte die Verknüpfung einer zumindest als fragwürdig zu bezeichnenden Präposition mit der für diese Region so typischen Affektverschiebung des Dativ auf den Akkusativ. Interessant auch folgende Konstruktion: aus 'ich tue, als ob ich krank sei', wird die verkürzte Form: 'ich tu[e] als ich krank bin.' Wir bemerken vor allem auch die Verschiebung der modalen Ebenen. In manchen Regionen wird nicht auf etwas aufgepaßt – also nicht: ich passe auf die Kinder auf, sondern: ich passe die Kinder auf bzw. unter Hinzuziehung einer Infinitivkonstruktion: ich tu(e) die Kinder aufpassen.

Die von manchen Sprachwissenschaftlern als niederrheinischer Superlativ bezeichnete Konstruktion 'der/die/das Größte überhaupt (wobei das `überhaupt' als 'übberhaaupttt' zu denken ist) hat sich – wie auch die mehr und mehr um sich greifende Amerikanisierung von weil-Konstruktionen (ich konnte nich[t] kommen, weil: ich war krank) – dagegen als gesamtdeutsches Sprachverunstaltungsphänomen erwiesen. In anderen Regionen tritt diese als niederrheinisch bekannte Sprachbeugung auch in etwa folgender Form auf: Aus 'ein ziemlicher Idiot' wird schnell 'der größte Idiot aller Zeiten'. Das Anhängsel 'aller Zeiten' wird – auch über den Niederrhein hinaus – gerne zum Prädikat besonders guter Filme gemacht. So wirbt ein bekannter Privatsender mit dem Spruch: 'Die besten Filme aller Zeiten' und suggeriert damit dem als ahnungslos eingeschätzten Konsumenten, daß schon zu Zeiten der Goten Filme gedreht wurden.

Die Diminution wird nicht durch das angehängte -lein- bzw. -chen-Partikel (also: Männlein, Häuschen) gebildet, sondern durch Zusatz des multifunktionalen -ke Anhängers: Mann – Männeke (Mann - Männchen). Der Plural – Männekes – wird durch zusätzliches Anhängen eines s gebildet, wobei darauf zu achten ist, das die so entstandene Endsilbe es eher ös gesprochen wird. Das ö ist hierbei als geschlossener Vokal zu denken und zu sprechen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient die wohl typische niederrheinische Frage nach Besitzständen. Aus der simplen Interrogativkonstruktion: 'Wem gehört das Fahrrad?' Antwort: 'Mir.' kann unter Verwendung zentralsprachlich gesteuerter Zentrifugalgrammatik das folgende entstehen: 'Wer hört der/datt Fahrrad?' Antwort: 'Ich.' Dem ethnisch Außenstehenden wird oft erst zu spät klar, daß es nicht um den Tatbestand geht, irgendjemand sei in der Lage, das Geräusch eines eventuell vorbeifahrenden Rades akustisch wahrzunehmen – es geht tatsächlich um eine Besitzstandsanzeige: wem gehört das Fahrrad?

(Schluß)konsonantverrüttelungen nach der Art von datt (das) oder nix (nichts) oder getz (jetzt) werden längt nicht mehr wahrgenommen. Sie können allerdings häufig auch in Verknüpfung mit den oben bereits beschriebenen Spracherscheinungen auftreten. So wird dann aus dem Fahrrad-Beispiel: 'Wer hört datt Ratt?' Antwort: 'I-hich.' Als eines der Schulbeispiele für Konsonantverrüttelung darf folgender Satz gelten: 'Schau/sieh mal, wie es dort dampft.' Nach Anwendung der KVT (Konsonantverrüttelungstechnik) wird aus dem ehemals simpel anmutenden Klanggerüst ein dadaistisches Sprachgeschwür: 'Kummawidattadampft'. Der auf diese Weise entstandene einfache Hauptsatz der ersten Ordnung macht zudem interpunktionale Eingriffe in den Sprachfluß gänzlich überflüssig. Selbst Anhänger des Bildungsbürgertums sind vor KVT nicht sicher und setzen diese vor allem dann gerne ein, wenn es gilt, sich volksnah zu geben. Dieses Verhaltensmuster allerdings darf andererseits als durchaus bundesweit gebräuchliche Abart verstanden werden. Eine weitere äußerst interessante Variante der niederrheinischen Zentrifugalgrammatik zeigt folgendes Beispiel. Aus dem Imperativ 'Stell dich einmal hierhin!' wird der niederrheinische Imperafintiv 'Geh ma(l) hier stehen!' oder – in einer anderen Lesart: 'Tu ma(l) hier stehen gehen!'(Figuraler Infinitiv). Hier noch ein letztes Beispiel für den affektverschobenen Dativ in Form einer Aussageerweiterung: Aus dem Imperativ: 'Hör bloß auf' ('Laß das bitte sein') wird: 'Hör mich doch auf!' Falsch wäre, in diesem Fall von einem Satzstellungsfehler zu sprechen, demzufolge es sich um die Bitte 'Hör doch auf mich' handeln könnte.

Hochbrisante Ergebnisse fördert auch die Untersuchung von Sprachschachtelungen in Zusammenhang mit Zitaten zutage. Stellen wir uns hierzu eine Niederrheinerin vor, die am Telefon mit – sagen wir – ihrer Schwester über ihren letzten Arztbesuch spricht. Es gilt darüber hinaus die Arbeitshypothese, daß beide Damen niederrheinisches Urgestein der Vorkriegsgeneration sind und somit des Platten mehr als mächtig. Irgendwann fällt im Laufe der Unterhaltung, deren Einleitung als unwesentlich zu betrachten ist, der folgende Satz: 'Ick saei tägen denn Docktor' (Ich sagte zum Doktor [zu jemandem sprechen = etwas gegen oder an jemand sagen]). Die Erwartung, daß die sich selbst zitierende Frau weiterhin Platt sprechen würde, wie sie es schon während des ganzen Gespräches getan hat wird jäh enttäuscht. 'Ick saei tägen denn Docktor: Herr Doktor, Sie können mir ruhig die Wahrheit sagen.' Im hochdeutschen Teil des Zitates muß man sich eine ins Akribische übersteigerte Klarheit der Diktion vor allem bei den Endkonsonanten vorstellen. Weiter geht es so: 'Da saei den Docktor tägen minn (da sagte der Doktor zu mir): 'Frau Janssen (das niederrheinische Äquivalent zu Müllermeierschulze), es ist sehr ernst.' Hier allerdings wird aus der eigentlich überdeutlich zu sprechenden Wortkombination 'es ist' , quasi um die Eindringlichkeit zu steigern ein 'esiss' (das Anfangs-e ist geschlossen, die s-Laute sind sehr weich zu denken).

Regel: Zitiert der Niederrheiner Personen öffentlichen Interesses oder Autoritätspersonen, fällt er für gewöhnlich abrupt ins Hochdeutsche und bemüht sich dazu noch um eine überdeutliche Aussprache – besonders dann, wenn von Ärzten (s.o.) oder Geistlichen die Rede ist. Ein weiteres Beispiel: 'Do saei dänn Passter tegen minn [ann minn]: Wir sind alle in Gottes Hand.' ('Da sagte der Pastor zu mir: Wir sind alle in Gottes Hand.').

Aus dem Bereich der Konsonantverrüttelung noch die folgende Imperativkonstruktion: 'Mutter, mach mal Marmelade.' = 'Mammamachmamammelade'. Oder aber: 'Laß die Mutter mal machen' = 'Laßmammamamachen!' Oder: 'Die Mutter macht das schon' = 'Mammamachdattschon.' Übrigens würde unter Anwendung der KVT der Unterschied zwischen der Aussage 'Mutter, macht das.' und der Bitte 'Mutter, mach das!' zu einer einheitlich nivellierten Aussage 'Mammamachdat' verschwimmen.

Der Niederrheiner ist auf dem Grunde seiner Seele nicht in der Lage, einen irgendwie gearteten Konflikt zu durchleben und hat aus diesem Grunde zahlreiche Varianten zur Relativierung desselben entwickelt, die zwar nicht in den grammatischen Sprachbereich eingreifen, aber nichtsdestoweniger nicht verschwiegen werden können. So ist beispielsweise das Satzpartikel 'bessernichalswiewohl' (besser nicht als doch) als quasi urtypisch niederrheinisches KVP (Konfliktvermeidungspartikel) anzusehen. Ca. 43,3 Prozent aller Antworten auf wichtige Fragen werden durch Voranstellung des Neutralisierungspartikels (NP) 'janääh' gebildet. Beispiel: 'Wat hellze davon?' (Wie findest du das?) Antwort: 'Janäääh dat geht aber nich,...oder doch oder wie.' Zusätzlich zur Verwendung des NP endet die Antwort mit einer Gegenfrage und wird so in letzter Instanz gänzlich neutralisiert. Verwiesen sei an dieser Stelle noch auf das Staunpartikel (StP) 'Boooa'. Beispiel: 'Boooa, wat bis du dääämlich!' In Verbindung mit einer eingesprungenen Interrogativvariante: 'Boooawá?!' – auch zu ersetzen durch 'Meeiiinaanähnähnäh!!' – kann das StP auch für einen eventuellen Ausdruck mißbilligenden Erstaunens benutzt werden. Im übrigen wird eigentlich an jeden Satz – unabhängig davon, ob er interrogativ oder affirmativ zu verstehen ist – ein explosionsartiges 'wá' angehängt. Also: 'Kaltwá' (ist es nicht kalt [je nach Betonung als Frage oder Aussage zu verstehen]). Schließlich ist noch das neutrale Konversationspartikel 'äei' zu nennen, mit dem beliebige Personen unter Umgehung des Du-zens oder Sie-zens freundschaftlich angeredet werden können: 'Äei, kuck ma!' (Sieh dir/ sehen Sie sich das an!) Beliebige Kombinationen sind hierbei ebenso möglich: 'Boooa mann äei wá' (Undefinierbarer Ausdruck für affirmatives oder interrogatives Staunen im Zustand höchster Erregung).

Ca. 99,836 Prozent der Niederrheiner quer durch alle Bevölkerungsschichten werden es darüberhinaus nie lernen, beim Besuch einer Eisdiele eine korrekte Bestellung aufzugeben. Mit erschütternder Ignoranz sämtlicher fremdsprachlicher Ausspracheregeln wird – was noch zu ertragen wäre – aus 'Espresso' 'Expresso' (es soll schließlich schnell gehen!). Was aber aus dem guten alten italienischen Begriff 'Stracciatella' (gesprochen: Sssstrratschiátella) gemacht wird, erfüllt – streng genommen – den Tatbestand des lingualen Mißbrauchs. 'Schtraatzijatella'. Mittlerweile soll es Fälle von italienischen Eisdielenbesitzern der ersten Einwanderungswelle (also wirkliche Uritaliener geben), die – sehr zum Leidwesen ihrer daheimgebliebenen Verwandtschaft – jederzeit beschwören würden, es habe seit Menschengedenken 'Schtratzijatella' geheißen.

Die Abteilung für Immunsprachforschung der Universität Heidelberg hat die Einrichtung eines sprachgenetischen Untersuchungslabors in Hönnepel zur Beobachtung von Konsonanten-Migrationen und grammatischen Feldverschiebungen in Erwägung gezogen. Auch historische Forschungen scheinen am Niederrhein aus gegebenem Anlass von großem Interesse. Bei einer überregionalen Erhebung des Institutes ProLingua stellte sich nämlich heraus, dass immerhin 24 Prozent der Niederrheiner der festen Überzeugung sind, es handele sich bei dem Namen Castrop-Rauxel um die altrömische Lesart von Wanne-Eickel.

Dass der Niederrhein bisweilen dem Größenwahn zugeneigt ist, zeigt die Werbung eines Tiefbauunternehmens, das auf einem eigens angefertigten Reklameschild nach dem Firmennnamen noch den Zusatz drucken liess: Erdbewegungen. Mit Spannung wird die für die nächste Frankfurter Buchmesse angekündigte Erstauflage des ersten niederrheinischen Grammtik-Kompasses (Nordkreis Kleve) erwartet, der im Verlag Pannhas erscheinen wird und zudem mit einer CD zusammen vertrieben werden soll, die eine Einführung in die Lautgestaltung enthalten wird. Das Paket zur Kontaktaufnahme mit der niederrheinischen Sprach- und Denkart wird zum Preis von 28 Euro in allen Buchhandlungen erhältlich sein.